Sehnsucht nach der Heimat

Heimweh schmerzt. Es ist ein beklemmendes Gefühl. Eine Leere. Es ist die Sehnsucht nach der Heimat in der Fremde. Was oft als Kinderleiden abgetan wird, trifft durchaus auch Erwachsene. Eine rationale Erklärung für ein irrationales Gefühl.

«Es si doch nume es paar Tag», höre ich eine Kollegin zu ihrer Zehnjährigen sagen. Eben hat sich die Kleine per Smartphone aus dem Skilager gemeldet. «Jede Tag ds glyche Drama», klagt mir die Mutter, nachdem sie sich mit tröstenden Worten verabschiedet hat. Ihre Tochter leidet an Heimweh. Und sie leidet mit.

Was für viele Eltern zur emotionalen Zerreissprobe wird, ist evolutionspsychologisch einfach zu erklären: «Um zu überleben, war der Mensch in früheren Zeiten auf soziale Gefüge angewiesen», erklärt Nora Müller, Psychologin an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD), den Ursprung dieses unangenehmen Gefühls. «Tatsächlich hinderte Heimweh unsere Urahnen daran, sich von ihrem unterstützenden, sicheren Umfeld zu trennen.» Schutz vor Feinden fand der frühe Mensch nur in der Gruppe.

Die Umstände haben sich mit dem Fortschritt geändert: Technische Errungenschaften wie Internet und Smartphone lassen die Welt zusammenrücken. Welche Berechtigung hat ein uraltes Gefühl wie das Heimweh in Zeiten der zunehmenden Globalisierung und der wachsenden Mobilität? «Auf kognitiver Ebene ist uns heute durchaus bewusst, dass die Trennung von zu Hause nicht mehr zwingend mit Lebensgefahr einhergeht», weiss Müller. «Das Gefühl des Heimwehs bleibt trotzdem. Es ist ein Erbe unserer Vorfahren.»


Es kann jeden treffen

Heimweh ist irrational. Kinderkram? Keineswegs. «Von vielen Erwachsenen wird dieses sehr natürliche und nachvollziehbare Gefühl verdrängt oder verleugnet», bestätigt Müller. Gemäss einer Studie aus den 1990er-Jahren kennen jedoch 75 Prozent der Erwachsenen das beklemmende, zum Teil schambehaftete Gefühl. «Tatsächlich kommt Heimweh in allen Altersgruppen vor», so Müller. Der Mensch lernt jedoch bereits im Kindergartenalter durch den Kontakt mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, seine Emotionen zu kontrollieren und Gefühle, wenn nötig, zu unterdrücken. Wer unter Heimweh leidet – so die verbreitete Ansicht –, hat seine Emotionen nicht im Griff. Betroffene Erwachsene schämen sich deshalb häufig für ihre «kindischen» Gefühle.

Dabei ist Heimweh nichts anderes als eine besondere Form von Stress: Das bedrückende Gefühl meldet sich, wenn eine Trennung von zu Hause stattfindet oder stattzufinden droht. Betroffene fühlen eine intensive Sehnsucht nach der Heimat, dem Zuhause, nach nahestehenden Personen, Orten oder geliebten Gegenständen, zu denen sie eine enge Verbundenheit oder Zuneigung empfinden. Psychologisch erklärt Nora Müller das Phänomen wie folgt: «Bindung ist ein menschliches Grundbedürfnis. Heimweh ist eine verständliche und gesunde Reaktion auf eine Trennung.»


Heimweh schmerzt

Im 18. Jahrhundert wurde Heimweh als eigenständige Krankheit beschrieben (siehe Infobox «Schweizer Krankheit»). Heute wird «Heimweh» – wenn überhaupt – noch als Teil einer Anpassungsstörung diagnostiziert. Und das auch nur, wenn es sich zu einem psychiatrisch relevanten Leiden entwickelt. Trotzdem mahnt Psychologin Nora Müller zur Vorsicht: «Auch wenn Heimweh heute nicht mehr unser Überleben sichert, darf es nicht als harmloses Überbleibsel aus der Steinzeit abgetan werden.» Wenn die Sehnsucht über längere Zeit nicht überwunden werde und ein immer grösseres Ausmass annehme, könne sie zu einer ernst zu nehmenden psychischen und physischen Belastung werden. Anders ausgedrückt: Auch wenn das Gefühl «Heimweh» heute irrational scheint, kann es sehr reale Auswirkungen haben! Menschen, die unter Heimweh leiden, berichten von depressiver Verstimmung, von Sorgen und Ängsten, von sozialem Rückzug, aber auch von Lust- und Interessenlosigkeit. Sie verlieren sich in Gedanken und Erinnerungen an die Heimat und haben Schwierigkeiten, sich auf das Hier und Jetzt einzulassen. Diese psychischen Merkmale werden zum Teil von körperlichen Reaktionen begleitet: Man leidet an Appetit- und Schlaflosigkeit oder anderen körperlichen Beschwerden («Herzschmerz», Kopf- und Bauchschmerzen usw.).

  • Der Tuileriensturm am 10. August 1792.
    Im Vordergrund tote Schweizergardisten, Jean Duplessis-Bertaux (1747–1818).


Erschwerte Integration

Heimweh ist ein interkulturelles Phänomen. Diverse Studien zeigen: Je stärker sich Kultur, Sprache, Religion und Umgangsformen unterscheiden, desto schwieriger ist die Integration und desto grösser das Heimweh. Diese Beobachtung macht Nora Müller auch in ihrem Berufsalltag: Die Psychologin arbeitet primär mit Menschen, die aus ihrem Heimatland geflüchtet sind und sich in der Schweiz im Asylverfahren befinden. Viele ihrer Patientinnen und Patienten mussten ihr Umfeld unter Zwang und ohne Vorwarnung verlassen. Sie wurden Opfer von Gewaltverbrechen, wurden bedroht oder mussten viele Entbehrungen erleiden. Oft sind sie hier in der Schweiz mit schwierigen Bedingungen konfrontiert (unsicherer Asylstatus, Wohnen im Durchgangszentrum). Sie erleben sprachliche und kulturelle Barrieren. All das kann das Gefühl von Heimweh und den inneren Rückzug verstärken – und so schliesslich die Integration erschweren.


Heimweh kann auch positiv sein

In der Sozialpsychologie spricht man von gelungener Integration, wenn sowohl der Schritt in die neue Heimat als auch das Bewahren der alten Heimat Bestandteil der eigenen Identität sind. Wer Heimweh in einem gewissen Rahmen zulässt, dem fällt die Integration leichter. Müller empfiehlt Migrantinnen und Migranten deshalb gerne, einem Kulturverein des Heimatlandes beizutreten: «Dort können Heimwehgefühle geteilt und ausgelebt werden.»

Die amerikanische Psychologieprofessorin Krystine Batcho rät dazu, Heimweh nicht zu verteufeln. Dem kann Müller viel abgewinnen: «Wer die Mechanismen dieser Gefühlslage versteht, kann etwas Gutes daraus ziehen», ist sie überzeugt. «Ein positives Sich-an-die-Heimat-Erinnern gibt in Phasen der Unsicherheit ein Gefühl von Kontinuität und Geborgenheit und fördert das persönliche Wachstum.»

«Morn chunnt sie wider hei.» Meine Kollegin nippt an ihrem Kaffee. «Zum Glück!», ergänzt sie und schaut mich erleichtert über den Tassenrand an. Heimweh ist nicht nur an Orte gebunden …

Schweizer Krankheit

«Der Kuhreigen ist unter Todesstrafe verboten!» – so ein Dekret an der französischen Front. Im 18. Jahrhundert wurde das Hirtenlied gerne von Schweizer Söldnern gesungen. Sie wurden davon melancholisch und kränkelten im Dienst der fremden Wehrmacht. Manche begingen geschwächt Fahnenflucht. Anderen ging es so schlecht, dass sie der «Nostalgia» erlagen. «Schweizer Krankheit» (lat. morbus helveticus) nannte man das Heimweh, das in der Fremde so stark an den gestandenen Eidgenossen nagte.

1688 erwähnte der Basler Arzt Johannes Hofer die «durch unerfüllte Sehnsucht nach der Heimat begründete Melancholie» erstmals in seiner Dissertation. Heute gilt Heimweh unter Psychologen nicht mehr als eigenständige Krankheit; die Sehnsucht nach der Heimat wird als interkulturelles und altersunabhängiges Phänomen beschrieben, das sowohl psychische als auch physische Auswirkungen haben kann.

Nora Müller, Psychologin FSP

«Heimat ist für mich dort, wo die mir wichtigen Menschen sind und wo ich mich zu Hause und wohl fühle. Dort, wo ich mich mit den Menschen verständigen kann und ich ein akzeptierter Teil der Gesellschaft bin.»

Nora Müller (32) arbeitet als Psychologin an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) in der Sprechstunde für Transkulturelle Psychiatrie. Müller klärt bei Menschen mit einem Migrationshintergrund ab, ob eine psychische Erkrankung vorliegt. Gegebenenfalls empfiehlt sie weiterführende Massnahmen. In der Psychotherapie werden die Patientinnen und Patienten traumaspezifisch behandelt.

Auch Nora Müller kennt das Gefühl von Heimweh. So machte ihr z.B. als 16-Jährige während eines Sprachaufenthaltes in Spanien die Trennung von Familie und Freunden sehr zu schaffen. Sie hatte Sehnsucht nach der Weite «ihres» Bodensees, an dessen Ufer sie aufwuchs. Das Heimweh zeigte sich auch körperlich: Der Teenager litt häufig unter Ohrenschmerzen. Mit der Zeit verblasste die Sehnsucht dann mehr und mehr. Als Erwachsene begegnete Müller dem Heimweh in Bern: Für das Psychologiestudium zog die St. Gallerin 2006 in die Bundeshauptstadt. Mittlerweile fühlt sie sich in Bern zu Hause und hat hier eine zweite Heimat gefunden.

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