Die späte Berufung der Grosis

Im Alter kommt die Gemächlichkeit, dafür geht die Energie. So heisst es. Aber manchmal klopft die Schöpferkraft erst in den Achtzigern richtig an. Wie kühne Seniorinnen aus dem Alterszentrum die Gastronomieszene aufwirbeln.

Es ist der Lauf des Tages, wie ihn so viele kennen. Aufstehen, an den Tisch sitzen und die langen Stunden bis zum Abend verstreichen lassen. Nichts dergleichen für Milly Haug und ihre Mitbewohnerinnen. «Wir sind vielleicht alt, aber wir gehören noch lange nicht zum alten Eisen.» Die 86-Jährige sitzt im Restaurant «Chez Grand Maman». Es ist gewissermassen ihr eigenes Restaurant. Das Lokal, integriert ins Thurvita-Alterszentrum Sonnenhof in Wil (SG), bietet seinen Besuchern seit rund einem Jahr Speisen aus alten Zeiten. Es sind traditionelle Rezepte von Bewohnerinnen wie Milly Haug, welche die Gäste hier entdecken. «Ich bin hell begeistert davon, was wir hier machen», strahlt die Seniorin, «einfach Däumchen zu drehen im Altersheim, das wäre nichts für mich».

Tüfteln im Labor

Vor rund achtzehn Monaten fängt alles an. Die Hotellerieleitung ruft mit den Bewohnerinnen das Start-up «Chez Grand Maman» ins Leben. Bewährte Rezepte und Konservierungsmethoden für die heutige Generation erhalten, darum dreht sich alles. Dafür tüfteln die forschen Seniorinnen jede Woche an ihren alten Menüklassikern. In der Laborküche kommen sie zusammen, brüten über den Rezepten, diskutieren und verbessern. Knackpunkt ist etwa das Kalbsvoressen: Soll man das Traditionsgericht vor dem Anbraten mehlieren oder nicht? Viele Kochversuche folgen. Haben Milly Haug und die anderen «Grand Mamans» ihre Rezepte getestet, kommen die Profis zum Zug. Eine Jury um Spitzenköchin Vreni Giger degustiert die Gerichte und entscheidet, welche davon die Thurvita-Küchencrew produzieren soll. Besondere Menüschätze schaffen es in den Webshop oder auf die Restaurantkarte.


Die Jury mit den Kreationen ins Schwärmen bringen? Das geht mit simplen Gerichten, die überdies richtig schmecken. Ein leichtes Spiel für Milly Haug. Die lebhafte Seniorin, heute neunfache Urgrossmutter, steht früher täglich für ihre vier Kinder am Herd. Von den Härdöpfelbröckli mit Schüblig bis zum sonntäglichen Braten mit Kartoffelstock – ihr Kochrepertoire ist in all den Jahren breit, wichtig aber: «Es musste satt machen, günstig und natürlich trotzdem gut sein.» Für einen ganz besonderen Klassiker ist die Familienköchin hochgeschätzt – einen, der es sogar auf die «Grand Maman»-Speisekarte geschafft hat: ihren goldbraunen Haselnussstollen. Backfreunden verrät sie hier ihr altes Familienrezept. Das Gebäck, das Milly Haug aus einem Zuckerteig aufrollt, ist auch nach sechzig Jahren der Hit in der Familie. Nur begreiflich, dass sie die Schritte des «Grand Maman»-Küchenchefs besonders wachsam begleitet, als dieser ihr Hausdessert in Produktion schickt. Ganz so, wie sie ihn selber gebacken hat, ist der Stollen nicht. Schuld ist der Offenverkauf, der kleinere Stücke erfordert. «Oben ist er anders eingeschnitten», bemerkt Milly Haug kritisch. «Das ist schade», doch dann kehrt ihr Lachen zurück, «aber gut schmecken tut er trotzdem.»

  • Seit vielen Jahren ist der Nussstollen Milly Haugs Hausspezialität.
  • Gault-Millau-Köchin Vreni Giger testet jede «Grand Maman»-Kreation auf den Geschmack.

Der Laden brummt, die Gäste sind zufrieden. Doch damit geben sich die «Grand Mamans» nicht zufrieden. Pläne für die Zukunft haben sie viele: Sie wollen etwa die Männer in der Bewohnerschaft besser ins Projekt einbinden. Dazu sollen sich diese gemeinsam mit der Stadtimkerei um ein eigenes Bienenvolk kümmern. Daneben planen die Seniorinnen ein Kochbuch, ein Restaurant ausserhalb des Alterszentrums sowie einen Stand am Wiler Wochenmarkt. Für den «Märit» sind die Bewohnerinnen fast bereit. In den letzten Monaten haben sie mittels Crowdfunding Geld gesammelt für ihren rollenden Verkaufsstand, einen flotten Dreirad-Piaggio. Für einen frechen Werbespot hat Milly Haug bereits eine Spritzfahrt unternommen, «dabei habe ich doch gar keinen Führerschein», lacht sie. Möglich war es trotzdem: Ein unsichtbarer Helfer hat den Flitzer in lila angestossen, «ich konnte dann mit meinen Füssen selber stoppen». Milly Haug wiederholt die flinke Beinbewegung und strahlt, während sie vom «Grand Maman»-Geschäft erzählt. Und das aus gutem Grund: «Es ist einfach herrlich, zu sehen, dass ich mit meinen 86 Jahren noch gebraucht werde», schwärmt sie, «wo könnte ich das sonst noch erleben?»

Mehr Hintergründe und Einblicke in die Kochwelt der geschäftigen Seniorinnen erhalten Sie hier.

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