Mut kennt keine Altersgrenze
Beruflich ganz neue Wege zu gehen: Das traut man jenen zu, die jung sind oder in der Mitte des Berufslebens stehen. Christine Abbühl hat diese Lust mit 57 Jahren gepackt. Sie erzählt, was daran mutig ist und warum es noch ganz anderes gebraucht hat.
Surrende Technik und blühende Natur. Es sind zwei Welten, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten. In beiden hat sich Christine Abbühl bewegt, aber nur in einer kann sie wirklich aufgehen. «Das zu erkennen, hat viel Zeit gebraucht», sagt sie. Als junge Frau studiert sie Elektrotechnik, arbeitet erst als Ingenieurin und wechselt später für viele Jahre in die Telekommunikation. Zweimal hat sie ein Beratungsunternehmen im technischen Bereich mitgegründet. «So ganz wollte sich das Glück aber nie einstellen», sagt sie im Rückblick.
Erst ein Coaching vor drei Jahren brachte die entscheidende Wende. «Da hat sich mir eine neue Welt aufgetan», so die gebürtige Norddeutsche, die seit über 30 Jahren in Bern lebt. Was sie in dieser Zeit am meisten gelernt hat: Das Herz ist manchmal der bessere Ratgeber als der Verstand. Zwar hat Christine Abbühl bis dahin mehrfach berufliche Brüche und Neuanfänge erlebt, «ich habe mich aber immer im sicheren Bereich bewegt, den meine Ausbildung definiert hat».
Garten als Startpunkt
Im Jahr 2019 trifft sie einen Herzensentscheid: Christine Abbühl gründet Urpunkt und berät Menschen und Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit. Erst richtet sie sich an Gartenbesitzer, die mehr aus ihrem grünen Reich machen wollen – etwas, was die Wahlbernerin zuvor selbst umgesetzt hat. Mit ihrem Mann kommt sie zu einem Chalet im Simmental, dessen grosszügiger Garten sie vollständig umgestaltet. Von einer aufgeräumten Anlage zu einer wilderen Oase, wo die Biodiversität zelebriert wird und mehr Tiere eine Heimat finden.
Christine Abbühls Blick für mehr Nachhaltigkeit hat sich seither geweitet – vom Garten über das Zuhause bis hin zu Unternehmen, die sie darin unterstützt, in kleinen Schritten schonender mit Ressourcen umzugehen. «Wir Menschen sind Teil der Natur. Nur wenn wir sie schützen, geht es auch uns gut.» Ein Gedanke, der in ihrer vormaligen Branche, der IT, zu wenig verbreitet sei.
«Mir einzugestehen, dass sich etwas ändern muss, hat Mut gebraucht.»
Mut zur Ehrlichkeit
Den Leidenschaften zu folgen, wie es Christine Abbühl heute macht, klingt nach einem gesunden Weg – ist es aber auch ein einfacher? «Von aussen kriege ich gespiegelt, dass es ganz schön mutig sei, was ich jetzt tue», erzählt die 60-Jährige. Sie selbst sieht es differenziert. «Ich bin jemand, der einen starken inneren Antrieb hat. Diesem zu folgen, ist eher eine Frage des Willens.» Ohne ein Coaching hätte sie sich allerdings kaum auf den neuen Weg begeben. «Das hat es gebraucht, damit ich überhaupt lerne, auf meine Gefühle zu hören.»
Mut habe es hingegen ganz zu Beginn gebraucht, als es darum ging, sich einzugestehen, dass sich etwas ändern muss. «Das Coaching überhaupt anzutreten, war die grösste Hürde, die ich nehmen musste.» Dass dieser Schritt mit 57 Jahren kam, sieht Christine Abbühl nicht als Besonderheit. «Ich glaube eher, dass es alle Erfahrungen gebraucht hat, damit ich jetzt an diesem Punkt sein kann.» Sie vermutet, dass der berufliche Neuanfang mit einer gewissen Lebenserfahrung sogar leichterfällt. «Man ist gefestigter und weniger von fremden Ansprüchen beeinflusst.»
Ihr beruflicher Neustart hat vieles in Bewegung gebracht. Die Unternehmerin ist auch für anderes offener, seit sie mehr auf ihr Herz hört. «Mut zu fassen, fällt mir jetzt viel leichter.» Etwa fürs Schreiben, das sie für sich entdeckt hat. Gerade schreibt Christine Abbühl an einem Fantasyroman rund um Lavendel, den sie mit Rezepten anreichern will. Was für andere eine mutige Kombination sein dürfte, ist für sie vor allem eine mundige.
Text: Marc Perler

Christine Abbühl gründete Urpunkt und berät Menschen und Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit.