«Echte» Freundschaft auf Zeit
Fast jedes zweite Kleinkind pflegt eine Freundschaft zu einem Fantasiewesen. Für Eltern kann das Leben mit dem unsichtbaren Familienmitglied zur Herausforderung werden. Das Auftauchen eines imaginären Freundes ist jedoch kein Grund zur Beunruhigung.
Imaginäre Freunde verbreiteten in der Vergangenheit Angst. Forscher und Ärzte waren lange der Ansicht, betroffene Kinder wären psychisch krank oder gar von Dämonen besessen. «Dieser Mythos hält sich hartnäckig», weiss Dr. Marianne Röthlisberger. Sie führt in Münsingen eine Praxis für Entwicklungspsychologie und beruhigt Eltern, die befürchten, ihr Kind sei beispielsweise an Schizophrenie erkrankt: «Tatsächlich hat fast jedes zweite Kind im Alter zwischen drei und acht Jahren einen imaginären Freund.» Die meisten aktuellen Studien beschreiben das Phänomen als normalen Teil der kindlichen Entwicklung.
So tun als ob
«Imaginäre Freunde tauchen auf, wenn das Kleinkind plötzlich über neue mentale Fähigkeiten verfügt», erklärt Röthlisberger. Üblicherweise entstehen solche Fantasiefreundschaften im Rahmen der Spielentwicklung, wenn das Kind das «So tun als ob»-Spiel erlernt: Aus einem Stück Holz wird dann kurzerhand ein Telefon, aus einem Bauklotzturm die Startrampe für eine Rakete. Das Spiel wird immer ausgefeilter. Die geistigen Fähigkeiten entwickeln sich weiter. Das Kind versteht Emotionen besser und kann irgendwann die Perspektive einer anderen Person einnehmen. «Fantasie und Kreativität, aber auch logisches Denken und eine fortgeschrittene Sprachentwicklung können das Entstehen einer imaginären Freundschaft begünstigen.»
Über den Sinn imaginärer Freundschaften im Kleinkindalter gibt es unterschiedliche Forschungsansätze: Die Hypothese der sozialen Kompetenz geht zum Beispiel davon aus, dass sozial motivierte Kinder besonders zu Fantasiefreunden neigen und ihre Fertigkeiten mit deren Hilfe weiter verfeinern. In Studien wurde bereits bestätigt, dass solche Kinder im Erwachsenenalter überdurchschnittlich sozial kompetent sind und mit sozialer Ausgrenzung besonders gut zurechtkommen.
Es gibt auch Untersuchungen in die entgegengesetzte Richtung: Einige Forschende vermuten, dass imaginäre Freunde vor allem von Kindern erschaffen werden, die aktuell wenig Möglichkeiten zu sozialer Interaktion haben. Gestützt wird diese Annahme durch Studien, die nachweisen, dass Einzelkinder und Erstgeborene eher zu Fantasiefreundschaften neigen.
Dr. Marianne Röthlisberger beobachtet in ihrer Praxis, dass imaginäre Freunde auch eine Form der kreativen Problemlösung sein können: «Das Kind verarbeitet mithilfe seiner Fantasiegestalt innere Konflikte, negative Emotionen oder versucht, mit eigenen Schwächen klarzukommen.» Das kommt zum Beispiel vor, wenn ein Kind das Gefühl hat, den elterlichen Regeln oder Erwartungen nicht zu genügen: Dann spiegelt es seine Vorbilder, wenn es seinem imaginären Freund etwas beibringen will. Das Kind nimmt den genauen Wortlaut oder Tonfall seiner Eltern an. Oft leben Kinder mit ihren imaginären Gestalten auch einfach ihre Kreativität und Fantasie aus. Dies trifft nicht selten bei besonders begabten Kindern zu. Sie erschaffen komplexe Spielwelten und sprengen damit die Grenzen der Realität.
Unsichtbare Familienmitglieder
Imaginäre Freunde werden von Kindern meist wie echte Personen behandelt. Dasselbe erwarten sie von ihrer Umwelt: Wenn ihr Fantasiewesen auf einem Stuhl sitzt, ist dieser tatsächlich besetzt. Das Kind wird sich vehement wehren, wenn jemand dort Platz nehmen will. In manchen Fällen werden imaginäre Freunde zu «echten» Familienmitgliedern mit eigenen Persönlichkeitsmerkmalen und Gefühlen (siehe Bildstrecke). Die Kinder kennen die Herkunftsgeschichte und die persönliche Lebensumwelt ihrer Gefährten. Meist tauchen ein bis zwei imaginäre Freunde auf. Gruppen sind eher selten.
Auch wenn sie ihre Fantasiewesen komplett in den Lebensalltag integrieren: «Den Kindern ist bewusst, dass ihre speziellen Gefährten nicht echt sind», betont Marianne Röthlisberger. Imaginäre Freunde sind kein Ersatz für reale Sozialkontakte. «Auch Kinder mit Fantasiegestalten bevorzugen echte Spielpartner, wenn sie die Wahl haben.»
In der Regel verlassen Fantasiegestalten Kinder im Alter zwischen acht und elf Jahren. «Dass in der mittleren Kindheit imaginäre Begleiter nicht mehr den kulturellen und sozialen Erwartungen entsprechen, könnte ein Grund für das allmähliche Verschwinden der imaginären Freunde sein», vermutet die Entwicklungspsychologin. Wobei Marianne Röthlisberger lieber von einer «Verwandlung» der Fantasiewesen spricht: «Vermutlich werden sie irgendwann zu Tagträumen, inneren Monologen und manchmal auch zu religiösen oder abergläubischen Überzeugungen.»
Echte imaginäre Freunde