Mehr Möglichkeiten
Gerade in den letzten Jahren sei die Perückenentwicklung rasch vorangegangen. «Was vor fünf Jahren Hightech war, ist heute Standard.» Das zeigt sich in der Art, wie die Haarersatzteile aufgebaut sind. Meistens sind die Haare auf ein Netz geknüpft, sodass die Kopfhaut durchschimmert und dadurch weniger Irritationen auslöst. Zudem sind die Farbverläufe natürlicher, der Plastikglanz hat ausgedient. Auch die Perücke selbst lässt sich nicht so einfach als unecht einstufen, «denn das Haar darin kann echt sein». Je nachdem, wie stark sich das Haar am Körper reibt, empfiehlt sich etwas anderes. Ist das Haar lang und wird die Perücke über viele Stunden am Tag getragen, greift Marcella Colazzo bevorzugt zu Echthaarperücken. Wobei es auch hier zu differenzieren gilt: Echthaar heisst nicht unbedingt menschliches Haar. «Es kann genauso gut von einer Ziege oder einem Büffel stammen.»
In anderen Fällen sei das Kunsthaar der Echthaarperücke überlegen. Über solche Details, von Machart, Verwendungszweck bis zur Frisurwahl, spricht die Expertin mit ihren Kundinnen bei einem ersten Treffen. Zudem misst sie die Kopfgrösse. Darauf folgt die Bestellung passender Perückenmodelle bei verschiedenen Zulieferern. Schliesslich steht der zweite Termin an, «da wird es ungleich schwieriger», wie Marcella Colazzo weiss. «Es ist der Zeitpunkt, wo die eigenen Haare auszufallen beginnen.»
Dieser Moment der Erkenntnis sei immer der schwierigste. Dann, wenn sie das Haar abrasiert und den Kundinnen die Perücken zur Probe aufsetzt, gehen die Empfindungen auseinander. Oft überwiegt aber die Erleichterung, dass das Warten auf das Ungewisse nun ein Ende hat. Wie einschneidend der Moment ist, hänge auch von der persönlichen Situation ab. «Wer etwas gesetzter ist, vielleicht ein gewisses Alter erreicht hat, kann besser damit umgehen.»
Einfühlen dank eigener Erfahrung
Die Anprobe des neuen, aber noch fremden Kopfschmucks, das Nachbessern und Zurechtzupfen, bis alles passt – es ist ein intimer Vorgang. Sowohl der Coiffeuse als auch ihren Kundinnen kommt dabei etwas zugute: Marcella Colazzos eigene Erfahrung. Sie kennt nicht nur die Situation hinter dem Coiffeurstuhl, sondern auch die darauf. Vor acht Jahren ist sie an Krebs erkrankt und hat selber für einige Monate eine Perücke getragen. Zu wissen, wie eine Erkrankung verlaufen kann, welche Phasen es gibt, das hilft ihr im Umgang mit den Kundinnen. Einzig wenn es wegen der Nähe darauf hinausläuft, dass sich jemand sogar ärztlichen Rat erhofft, muss sie sich abgrenzen. «Meine Aufgabe ist eine andere», so die gebürtige Deutsche, die seit bald zwanzig Jahren in der Schweiz lebt. «Meine Aufgabe ist es, die Frauen schön zu machen, damit sie sich wieder wohlfühlen.» Wenn das vielleicht sogar einen Effekt darauf habe, wie jemand eine Erkrankung bewältige, dann umso besser.
Oft sei mit einer Perücke nicht nur den Betroffenen selbst, sondern dem ganzen Umfeld geholfen. Vor allem, wenn kleine Kinder da seien. «Wenn bei der Mutter das Haar ausfällt, ist es für die Kinder das erste untrügliche Zeichen, dass etwas nicht stimmt.» So sei es auch in ihrer Familie gewesen. Vor allem die damals dreijährige Tochter hatte stark mitgelitten, «sie wollte ihre Mama wiederhaben». Die Perücke sei dann eine gute Möglichkeit, wieder ein Stück weit Normalität ins Familienleben zu bringen.
Weil sie die Nöte kennt von sich und ihren Kundinnen, geht Marcella Colazzo noch einen Schritt weiter. Alle Kundinnen erhalten ihre persönliche Handynummer, mit der Erlaubnis, jederzeit, auch sonntags, anzurufen. Jede Erkrankung verläuft anders, oft kommt der Haarausfall plötzlich, manche wollen dann keine Zeit verlieren. Dass jemand zu ungewohnter Zeit anrufe, komme zwar selten vor, «aber die Möglichkeit dazu gibt eine gewisse Sicherheit». Marcella Colazzo fällt es nicht schwer, sich in ihre Kundschaft einzudenken. Ihre eigene Vergangenheit ist mehr als nur hilfreich für das, was sie heute macht – sie ist auch der Grund. «Jemanden auf dem Weg zum Perücketragen zu begleiten, ist etwas ganz anderes als der gewöhnliche Coiffeurbetrieb. Ich könnte es nicht, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte.»