Unvergessen
Lisa K.* hat ihre demente Grossmutter bis an deren Lebensende mitgepflegt. Die Krankheit hat alle herausgefordert. Über die Jahre gab es viele schwierige, aber auch immer wieder schöne, persönliche Momente.
*Richtiger Name der Redaktion bekannt.
Lisa, wer war deine Grossmutter vor der Erkrankung?
Meine Grossmutter war die liebevollste Person, die ich kenne. In dem kleinen Bergdorf, in dem sie lebte, ging es oft ums Überleben. Meine Grossmutter war immer der ruhende Pol in der Familie und kümmerte sich um alle, die sie brauchten. Sie klagte nie über ihr Leben oder ihr Schicksal. Und je grösser ihre Familie wurde, desto mehr genoss sie die Zeit – sei es mit ihren Kindern, Enkeln oder Urenkeln. Die Familie war immer das Wichtigste in ihrem Leben. Das hat sie uns allen mitgegeben.
Ausserdem war sie eine vorzügliche Köchin, und ich wünschte, wir hätten ihre Rezepte aufgeschrieben. Dann könnten wir diese heute nachkochen. Auch wenn es keinem von uns je gelingen würde, es mit ihrer Hingabe zu tun.
Wie hat sich ihre Persönlichkeit mit der Krankheit verändert?
Sie war immer die liebevollste Grossmutter, die man sich wünschen konnte. Ihre unendliche Liebe konnten wir bis zum Schluss deutlich spüren. Für mich ist es schwierig, zu sagen, ob sich überhaupt etwas geändert hat. Die Krankheit kam sehr schleichend und dauerte über mehrere Jahre. Dass es sich um Demenz handelte, erkannte man sie erst spät. Wir als Familie hatten viel Zeit, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Das war nicht immer nur positiv.
Was hat die Diagnose für deine Grossmutter bedeutet?
Am Anfang, als meine Grossmama merkte, dass sie immer mehr vergass und ihre Sachen immer häufiger suchen musste, litt sie sehr darunter. Sie zog sich zurück und war nicht mehr die aufgestellte Person, die wir kannten. Man merkte immer mehr, wie einsam und gefangen sie in ihrem Körper war und wie sehr ihr das zu schaffen machte. Doch auch in dieser Zeit hat sie nie wirklich geklagt oder ihr Schicksal hinterfragt. Sie war dankbarer denn je, genoss die Zeit mit ihrem Mann und der stetig wachsenden Familie und versuchte, sich so wenig wie möglich von ihrem Kummer und ihren Sorgen anmerken zu lassen.
Wie hat sich die Krankheit deiner Grossmutter entwickelt?
Ihre kognitiven Fähigkeiten nahmen langsam, aber stetig ab. Irgendwann erkannte sie ihre Liebsten nicht mehr. Sie wusste nicht mehr, was sie mit dem Essen oder dem Trinken machen sollte. Zum Glück war sie in einem kleinen familiären Altersheim, in dem man sich viel Zeit für die einzelnen Bewohner nahm. Das Essen musste püriert werden und die Getränke eingedickt, damit sie sich weniger verschluckte. Es brauchte sehr viel Geduld, dass sie etwas in den Magen bekam. Was sie bis zum Schluss liebte, war Schokolade. Sie hat sie immer sichtlich genossen.
Wie ging die Familie mit dem zunehmenden Verlust der kognitiven Fähigkeiten deiner Grossmutter um?
Für uns war es schwierig, damit klarzukommen. In der Zeit, als sie selbst ihre Defizite noch bemerkte, machten wir uns sehr grosse Sorgen. Man sah ihr wirklich an, dass sie darunter litt. Als sie dann aber ihre Vergesslichkeit nicht mehr mitbekam, wurde es irgendwie einfacher. Wir sahen, dass sie eigentlich zufrieden war und dass sie keine Schmerzen hatte. Das war für mich immer das Wichtigste. Als meine Grossmutter ihren Mann und ihre Kinder schliesslich immer weniger erkannte, war die Situation für die Beteiligten alles andere als einfach.
Wie hat euer Umfeld auf die Diagnose Demenz reagiert?
Die Situation überforderte viele unserer Freunde und Bekannten. Einige wussten schlicht nicht, was die Krankheit alles mit sich bringt. Andere waren ratlos, wie sie mit meiner Grossmutter, aber auch mit uns umgehen sollten. Viele haben sich von uns abgewendet, weil sie nicht damit umgehen konnten. Dass das Thema Demenz noch immer ein gesellschaftliches Tabu ist, verletzt mich und macht mich sehr nachdenklich.
Hat sich die Beziehung zu deiner Grossmutter mit dem Verlauf der Krankheit verändert?
Meine Grossmutter war immer einfach meine Grossmutter. Ihr grosses Herz spürte man bis zum Schluss, und ich fühlte mich immer geborgen und willkommen in ihrer Nähe. Die Kommunikation spielte natürlich eine immer kleinere Rolle; dafür wurden das Körperliche, die Berührungen und das Fühlen in ihrem Alltag immer wichtiger. Sie liebte es zu singen. Also sang ich, wenn ich sie sah. Dabei konnte sie sich richtig zurücklehnen, und ich merkte, dass sie sich wohlfühlte; auch wenn sie das ziemlich früh nicht mehr so sagen konnte.
Manchmal schwankte ich zwischen der Rolle der Enkelin und jener der Pflegerin. Es machte mich wahnsinnig, wenn meine Grossmutter nicht so behandelt wurde, wie ich es mir wünschte oder mir vorstellte. Wenn ihr jemand eine komische Kleiderkombination angezogen hat, hätte ich am liebsten alles wieder gewechselt. Ich hatte eine klare Vorstellung davon, was meiner Grossmutter gefallen würde und was nicht.
Gab es auch schöne Momente während der Pflegezeit?
Ja. Ich durfte in dieser Zeit meiner Grossmutter sehr nahe sein. Dafür bin ich heute noch sehr dankbar. Jeden Morgen und jeden Abend besuchte ich sie in ihrem Zimmer und hielt kurz mit ihr inne. Ich möchte die intensive Zeit mir ihr nicht missen und denke sehr oft daran zurück.
Was kannst du Betroffenen mit auf den Weg geben?
Es braucht wahnsinnig viel Kraft, Zeit und Geduld, um einer Person im Umfeld mit Demenz zu begegnen, sie zu unterstützen und zu betreuen. Die Person, die an Demenz erkrankt ist, ist immer noch die Person, die man früher kannte. Sie lebt ihr Leben jetzt jedoch in einer anderen Form weiter. Ich möchte Mut machen. Verschliesst die Augen nicht. Auch wenn es manchmal einfach unglaublich schmerzt, eine geliebte Person so zu sehen. Redet mit euren Liebsten, redet mit der/dem Betroffenen. Ich bin überzeugt, dass sie/er mehr mitbekommt, als wir uns alle bewusst sind. Es darf auch mal zusammen geweint werden, Gefühle müssen unbedingt Platz haben. Wie das Weinen gehört aber auch das Lachen dazu.
Barbara Zesiger
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