Der eilige Geist

Je älter ein Mensch wird, umso schneller vergehen für ihn die Jahre. Durch die digitale Lebensweise wird das Phänomen verstärkt. Wie der Zeitsinn unser Leben prägt.

Es gibt Orte, an denen existiert keine Zeit. Die jahrtausendealte Salzwüste Salar de Uyuni in Bolivien ist so einer. Der deutsche Filmemacher Philipp Hartmann wollte die Zeitlosigkeit dort festhalten. Er ist 38 Jahre alt und befindet sich damit – statistisch gesehen – exakt in der Mitte seiner durchschnittlich zu erwartenden Lebenszeit von 76 Jahren. Er hat das Gefühl, die Zeit rast und steht gleichzeitig still. Dafür gibt es eine medizinische Diagnose: Chronophobie – die krankhafte Angst vor dem (zu schnellen) Vergehen der Zeit. Angst davor, dass zu wenig Zeit bleibt. Angst, weil man die Zeit nicht aufhalten kann.

Subjektive Wahrnehmung

Fakt ist: Je älter wir werden, umso schneller empfinden wir das Vergehen der Zeit. Psychologie und Hirnforschung ist es in den letzten Jahren gelungen, den menschlichen Zeitsinn weitgehend zu enträtseln. Der deutsche Psychologe und Autor Marc Wittmann hat ein Buch («Gefühlte Zeit») zum Thema geschrieben. Die gefühlte Lebenszeit, heisst es dort, «weist als begrenzte Grösse stark auf den existenziellen Aspekt unseres Lebens hin».

Welche Bedeutung Zeit für das Leben der Menschen hat, ist sehr unterschiedlich und kann nur subjektiv beantwortet werden. Ewig dauerte die Zeit vor Weihnachten als Kind. «Wievielmal noch schlafen?» die allabendliche Frage. Das Warten auf den ersehnten Telefonanruf des ersten Schwarms – schier endlos. Und wenn man dann endlich einmal 18 Jahre alt wäre, dann würde das Leben so richtig losgehen. Ist man angekommen im Leben, diesem Erwachsensein, so galoppiert es einem davon. Schon wieder Silvester, schon wieder ein Jahr vorbei. Man ertappt sich dabei, wie man zu Kindern sagt: «Seid ihr gross geworden.» Die Songs der Jugend werden bei den Oldies gespielt, und beim Apéro im Büro heisst es zwischen Häppchen und einem Glas Weisswein freundlich: «Also ich hätte dich viel jünger geschätzt.»

Wer dreht an der Uhr?

Eine wegen ihrer rechnerischen Einfachheit beliebte Erklärung des Phänomens ist, dass ein Jahr, verglichen mit dem gesamten Lebensalter, mit zunehmendem Alter kürzer werde. Für einen 10-Jährigen ist ein Jahr ein ganzes Zehntel seiner erlebten Zeit. Für einen 80-Jährigen ist es nur noch ein Achtzigstel. Solche Rechenoperationen beschreiben für Wittmann aber nur das Phänomen. Erklären tut er das Gefühl der gelebten Zeit anders: Es sei plausibler, dieses Gefühl mit der Perspektive auf das Vergangene und das Zukünftigen zu erklären. Denn die Zukunftsperspektive beziehe sich immer auf Konzepte der Vergangenheit (des Erfahrungsschatzes), der Gegenwart (des Jetzt) und einer (möglichen) Zukunft. Diese Wahrnehmung verändert sich mit jeder Sekunde, wird aber in der Regel erst nach grösseren Zeiteinheiten wie Wochen und Jahren erfasst. Oder wie es der Poet Wilhelm Raabe schon vor über hundert Jahren sagte: Alter – das ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.

Eine von Wittmann durchgeführte Studie, bei der rund 500 Personen zwischen 14 und 94 Jahren befragt wurden, zeigt Erstaunliches. Zwar beobachteten alle erwachsenen Teilnehmer eine Beschleunigung der Zeit mit fortschreitendem Alter. Beurteilten sie aber ihre Zeitwahrnehmung im Rahmen fest eingeteilter Perioden wie einer Woche oder eines Monats, so verlangsamte sich die empfundene Zeit. Es sind also nicht die nur kurz zurückliegenden Zeiteinheiten, sondern die Lebensjahrzehnte, die viel schneller vergehen. Diese subjektive Geschwindigkeit nimmt bis zum 60. Lebensjahr ständig zu, dann erreicht sie ein Plateau und stagniert.

Der Filmemacher Hartmann therapiert seine zeitliche Lebensmitte-Krise selbst. Er geht mit seiner Kamera zurück in die Salzwüste (das erste Mal «hatte er keine Zeit») und verbringt dort zwei Wochen, um die Unvergänglichkeit sichtbar zu machen. Er hält sich selbst an einem Ort gefangen ohne Internetanschluss und Telefonnetz, steht mit der Sonne auf und geht mit ihrem Untergehen ins Bett. Im Film hält er diese zeitlosen Bilder seinen die Vergänglichkeit dokumentierenden Familienfotos entgegen. «Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe», ist Hartmanns Fazit und der Titel des Filmes zugleich.

Stress als Statussymbol

Das Experiment in der stillen Wüste zeigt: Das Zeitalter der digitalen Information und Kommunikation bringt einen neuen Zeitbegriff mit sich. Durch seine permanente Verfügbarkeit macht das Digitale eine pausenlose Gesellschaft erst möglich. Die Linearität der Zeit wird zunehmend aufgelöst und durch eine Simultaneität ersetzt. Der moderne Mensch fährt Zug, tippt dabei seine Chat-Nachrichten, hört Musik und liest dazu noch in einer Gratiszeitung. Diese Gleichzeitigkeit erlaube einen unglaublichen Produktivitätszuwachs, schreibt Rafael Ball in der Publikation «Die pausenlose Gesellschaft». Zur altersbedingten Beschleunigung gesellt sich die digitale. Verstärkt werde dieser Mechanismus durch die «Alles-überall-bitte-sofort-Mentalität». Kleine Zeitsparstrategien wie Power-Napping, Fast Food oder Speed-Dating sollten uns dabei helfen, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu erledigen. Die wiederum scheint nie auszureichen für die steigende Anzahl sich auftuender Möglichkeiten. Ball sieht diese Quantifizierung als Treiber der gehetzten Gesellschaft, in der «sich jedes Individuum, das nicht über Stress klagt, verdächtig macht».

Die Magie der ersten Male

Eine Erhöhung des Lebenstempos beobachtet auch der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch «Beschleunigung und Entfremdung». Erstens schrumpfe die Zeit, welche wir für Essen, Schlafen oder Gespräche aufwenden. Zweitens «komprimierten» wir Handlungen und Erfahrungen, um in einer gegebenen Periode mehr zu tun, indem Pausen und Leerräume verringert würden. Befeuert wird dies durch den Siegeszug der Smartphones: Wegen der permanenten Verfügbarkeit des Internets tut man kaum mehr eine Sache allein. Es entsteht der Trugschluss, dass, «wer doppelt so schnell lebt», die Hälfte der Zeit spart und die eigene Lebensspanne verlängert. Dabei wird die Rechnung aber ohne den Zeitsinn gemacht.

Je mehr Dinge gleichzeitig unternommen werden, umso weniger Aufmerksamkeit wird dafür aufgewendet. Es fehle an Intensität, stellt Zeitforscher Wittmann fest. Deshalb bleibt weniger im Gedächtnis haften, und die innere Uhr tickt schneller, weil die Erfahrung subjektiver Lebenszeit von der Erinnerung abhängt. Ganz anders in der Kindheit, als all die ersten Male starke Erinnerungen schufen. Ähnlich wie mit der Gleichzeitigkeit verhalte es sich mit der Routine. Diese führe, weil man immer wieder das Gleiche erlebt, zu einer blasseren Wahrnehmung. Im Umkehrschluss findet sich in diesen Erkenntnissen das Rezept für ein erfülltes Leben: neue erste Male erleben etwa. Die Routine durchbrechen und manchmal ganz einfach – wie der Filmer in der Salzwüste – an einem ruhigen Ort nichts tun.

Text: Seraina Kobler

Dieser Text ist am 2. Januar 2016 in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschienen.

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